Beschreibung
Carsten Jensen erzählt in "Wir Ertrunkenen" von Menschen, deren Leben vom Meer bestimmt ist: von Männern, die ihrer Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer folgen, und von Frauen, die dem Meer, das ihnen die Männer und Söhne raubt, den Kampf ansagen. "Wir Ertrunkenen" ist ein pralles, buntes Buch voller phantastischer, komischer und nachdenklicher Geschichten. Alles beginnt im Jahr 1848, als der Seemann Laurids Madsen aus Marstal in den Himmel fliegt und unversehrt wieder zur Erde zurückkehrt. Der Tod hat ihn noch nicht gewollt. Später wird er sagen, seine Stiefel seien zu schwer für ein Leben da oben gewesen. Seither ist Laurids eigenartig, und irgendwann verschwindet er auf den Weltmeeren. Seine Stiefel bleiben zurück, bis sein Sohn Albert sie anzieht. Er macht sich auf den Weg in die Südsee, um seinen Vater zu suchen. Mit dem Schrumpfkopf von James Cook und dem Geheimnis der Geldvermehrung kehrt er als Reeder zurück in seine Heimatstadt. Er weiß, dass im neuen Jahrhundert die Zukunft in den Frachträumen der großen Segelschiffe liegt. Von Marstal aus sollen noch mehr Schiffe in See stechen. Doch Albert hat nicht mit den Frauen gerechnet. Sie hassen das Meer, das ihnen ihre Männer und Söhne genommen hat und immer wieder nimmt. Eine von ihnen nimmt den Kampf auf.
Leseprobe
DIE STIEFEL Laurids Madsen war im Himmel gewesen, doch dank seiner Stiefel war er auch wieder heruntergekommen. Er war nicht bis hoch zum Masttopp geflogen, eher so auf die Höhe der Großrahe eines Vollschiffs. Er hatte am Tor zum Paradies gestanden und den heiligen Petrus gesehen, doch es war nur der Arsch, den der Hüter der Pforte zum Jenseits ihm gezeigt hatte. Laurids Madsen hätte tot sein sollen. Aber der Tod hatte ihn nicht gewollt, und so wurde er ein anderer. Bevor Laurids Madsen wegen seines Besuchs im Himmel berühmt wurde, hatte man ihm vorgehalten, eigenhändig einen Krieg angezettelt zu haben. Mit sechs hatte Laurids seinen Vater, Rasmus, ans Meer verloren, und mit vierzehn war er mit der Anna aus Marstal in See gestochen. Drei Monate später war die Anna in der Ostsee untergegangen. Die Besatzung wurde von einer amerikanischen Brigg gerettet, seither hatte Laurids Madsen von Amerika geträumt. Mit achtzehn hatte er in Flensburg sein Steuermannspatent bestanden und noch im selben Jahr bei Mandal vor der Küste Norwegens ein zweites Mal Schiffbruch erlitten; dort hatte er in einer kalten Oktobernacht auf einer Schäre gestanden, die von den Wellen überspült wurde, und Ausschau nach Rettung gehalten. Fünf Jahre war er über die Weltmeere gesegelt. Er hatte Kap Hoorn umrundet und in der pechschwarzen Nacht den Schrei des Pinguins gehört. Er hatte Valparaiso gesehen, die Westküste von Amerika und Sydney, wo die Bäume im Winter statt der Blätter die Borke verlieren und die Kängurus umherhüpfen. Er hatte ein Mädchen mit Augen wie Weintrauben getroffen, das auf den Namen Sally Brown hörte, und wusste von der Foretop Street, La Boca, Barbary Coast und der Tiger Bay zu berichten. Er hatte den Äquator überquert, Neptun gegrüßt und den Stoß gespürt, als das Schiff die Linie kreuzte. Er hatte aus diesem Anlass Salzwasser, Fischöl und Essig getrunken. Er war mit Teer, Lampenruß und Leim getauft und mit einem rostigen Messer mit schartiger Klinge rasiert worden, seine Schnitte hatte man mit Salz und Kalk versorgt. Er hatte die ockerfarbene Wange der pockennarbigen Amphitrite geküsst und die Nase in ihr Riechfläschchen voller abgeschnittener Nägel gesteckt. Laurids Madsen war weit herumgekommen. Wie so viele. Doch als Einziger war er mit der fixen Idee heimgekehrt, dass in Marstal alles zu klein und zu eng war, und um das zu beweisen, redete er ständig in einer Sprache, die er 'amerikanisch' nannte. Ein Jahr war er auf der Kriegsfregatte Neversink gefahren und hatte dabei das fremde Idiom gelernt. 'Gevin nem belong mi Laurids Madsen', sagte er. Er hatte drei Söhne und eine Tochter mit Karoline Grube aus der Ny- gade. Rasmus, genannt nach Laurids' Vater, Esben und Albert. Das Mädchen hieß Else und war die Älteste. Rasmus, Esben und Else schlugen nach der Mutter; wie sie waren sie nicht sonderlich groß gewachsen und sagten nicht viel. Albert glich seinem Vater. Bereits als Vierjähriger war er ebenso groß wie der drei Jahre ältere Esben. Ständig kullerte er eine englische Kanonenkugel aus Gusseisen umher und versuchte wieder und wieder, sie hochzuheben. Er ging in die Knie und bekam einen verbissenen und stieren Blick, doch noch war sie zu schwer für ihn. 'Heave away, my jolly boys! Heave away my bullies!', spornte Lau- rids ihn an, wenn er die Versuche seines Jüngsten sah. Die Kugel war 1807 während der englischen Belagerung von Marstal durch das Dach des Hauses in der Korsgade geschlagen. Großmutter hatte sich dermaßen erschrocken, dass sie Laurids mitten auf dem Küchenfußboden zur Welt gebracht hatte. Wenn Albert nicht gerade damit unterwegs war, hatte die Kanonenkugel ihren festen Platz in der Küche: Karoline benutzte sie dort als Stößel, um im Mörser Senf zu mahlen. 'Tja, genauso gut hättest du deine Ankunft auf diese Weise ankündigen können', hatte Rasmus einmal zu Laurids gesagt, 'so groß, wie du warst, als du zur Welt kamst. Wenn der Storch dich verloren hätte, wärst du auch wie eine englische Kanon