Beschreibung
Wenn Joseph in den Stall kommt und den Geruch der Tiere einatmet, fühlt er sich zu Hause. Joseph ist Landarbeiter in der Auvergne. Hier im Cantal war er auf fast allen Höfen angestellt, und er kennt auch die unguten Geschichten. Bald wird er sechzig. Seine wenigen Habseligkeiten passen in einen Koffer, er hat sich im Altersheim angemeldet. Joseph liebt seine Arbeit, die Tiere, besonders die Kälber, den Hund. Er ist schweigsam, beobachtet lieber die anderen. Als er dreißig war, liebte er Sylvie, einen Sommer lang. Aber die ging mit einem anderen weg, und Joseph begann zu trinken - zwölf Jahre wie in Watte, an die er sich kaum erinnert. Sein Bruder hat sich anderswo ein Leben aufgebaut. »Joseph«, heißt es, »hat kein Heim gegründet, Leute wie er gründen kein Heim.«In knapper, rhythmischer Sprache porträtiert Marie-Hélène Lafon nicht nur einen Mann, der sich nie über sein Schicksal beklagt, sondern auch ein unbekanntes Frankreich, weit, sehr weit von Paris entfernt. Es ist eine Welt, die im Untergang begriffen ist, wo die Jungen weggehen und die, die bleiben, wissen, dass es nach ihnen aufhört. »Joseph«, angelehnt an Flauberts berühmte Novelle »Ein schlichtes Herz«, ist ein berührender Roman über das Glück des Anspruchslosen.
Autorenportrait
MARIE-HÉLÈNE LAFON, 1962 geboren, lebt heute in Paris. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden, spielen im Cantal, in der abgeschiedenen, von Landwirtschaft geprägten Bergwelt, wo Lafon aufgewachsen ist. Sie gehört zu den interessantesten literarischen Stimmen im gegenwärtigen Frankreich. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la nouvelle, 2020 den Prix Renaudot. »Joseph« ist nach »Die Annonce« und »Geschichte des Sohnes« der dritte Roman der Autorin auf Deutsch, übersetzt von Andrea Spingler.
Leseprobe
»Joseph hatte sich gern um die Kälber gekümmert, die alle auf den Höfen aufwuchsen, bevor es Mode wurde, sie mit drei Wochen zum Mästen nach Italien oder sonst wohin zu verkaufen;selbst in den großen Herden wie der von Les Manicaudies hätte er nie ein Junges mit einem anderen verwechselt, er verhätschelte sie nicht, dazu hatte man keine Zeit, und alle hätten ihn verspottet oder für einen Sonderling gehalten.«