Beschreibung
Der Ansatz der Lebenswissenschaften, Liebe auf biochemische Prozesse im menschlichen Körper zurückzuführen, wird zurzeit stark beachtet. Dieses Buch möchte solche Prozesse nicht leugnen. Aber es vertritt die Auffassung, dass erst ihre gesellschaftlich-kulturelle Überformung dem Phänomen Liebe die Gestalt verleiht, die für die Erlebenswirklichkeit des Menschen entscheidend ist. Wie werden die körperlich-seelischen Vorgänge ausgelöst, und wie werden sie gedeutet? Welche Werte, Normen und Leitbilder werden mit ihnen verknüpft? Welche gesellschaftlichen Regeln bestimmen den Umgang mit ihnen? Diese Fragen können nur vor dem Hintergrund des historischen Wandels beantwortet werden und fordern Historiker und Philologen, Soziologen und Kulturwissenschaftler gemeinsam heraus.
Autorenportrait
Frank Becker ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen. Elke Reinhardt-Becker, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Duisburg-Essen.
Leseprobe
Vorwort Liebe ist ein komplexes und schwieriges Thema - nicht nur im Leben, sondern auch für die Wissenschaft. Das spiegelt sich darin, dass zahlreiche Fächer Forschungsanstrengungen auf diesem Feld unternehmen. Viel öffentliche Beachtung finden zurzeit die Lebenswissenschaften, welche die Liebe auf biochemische Prozesse im menschlichen Körper zurückführen. Ohne solche Prozesse verleugnen zu wollen, vertritt der vorliegende Band die Auffassung, erst deren gesellschaftlich-kulturelle Überformung verleihe dem Phänomen diejenige Gestalt, die für die Erlebenswirklichkeit des Menschen letztlich entscheidend ist. Wie werden die körperlich-seelischen Vorgänge gedeutet, welche Werte, Normen und Leitbilder an sie geknüpft - welche gesellschaftlichen Regeln bestimmen den Umgang mit ihnen? All dies lässt sich aus historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive unter dem Begriff 'Semantik' zusammenfassen. Semantiken sind, wie alle gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten, dem historischen Wandel unterworfen; und sie werden in Medien kommuniziert und gespeichert, wo sie für den Forscher greifbar sind. Liebessemantiken steuern das Erleben und Handeln der Menschen auf dem Feld ihrer intimen Beziehungen, aber oftmals auch darüber hinaus; und umgekehrt wirken Veränderungen in anderen Realitätsbereichen ständig auf die Entwicklung der Liebessemantiken zurück. Um solchen Zusammenhängen nachzuspüren, wurde am 21. und 22. September 2017 in Essen die internationale und interdisziplinäre Konferenz 'Liebesempfindungen, Liebeserfindungen. Semantiken der Liebe zwischen Kontinuität und Wandel - vom Barock bis zur Gegenwart' durchgeführt. Beteiligt waren Vertreterinnen und Vertreter der Fächer Geschichte, Germanistik, Romanistik, Soziologie und Filmwissenschaft. Aus den präsentierten Referaten sind die Beiträge des vorliegenden Bandes entstanden. Zusätzlich eingeworben wurde der Aufsatz von Takemitsu Morikawa. Bei der Konferenz wurde deutlich, dass vor allem Liebe und Identitätsbildung eng miteinander verknüpft sind. Von den Ansprüchen, die in bestimmten historischen Situationen an die Identitätsbildung gestellt werden, hängt die Präferenz für das eine oder andere Liebeskonzept in hohem Maße ab. Außerdem erwies sich die Unzulänglichkeit der althergebrachten Vorstellung, Gesellschaften seien - wiederum in bestimmten historischen Situationen - eindeutig von gleichsam hegemonialen Liebessemantiken beherrscht. Die aktuelle Tendenz zu einer starken Diversifizierung sollte uns für Konkurrenzverhältnisse zwischen unterschiedlichen Liebesmodellen sensibilisieren, die es auch in der Vergangenheit bereits gab. Der Band trägt diesen Ergebnissen Rechnung, indem er die Begriffe Identität und Diversität im Titel führt. Der Dank der Herausgeber gilt dem Profilschwerpunkt 'Wandel von Gegenwartsgesellschaften' an der Universität Duisburg-Essen unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Achim Görres, der die Konferenz ebenso wie die Publikation ihrer Ergebnisse in großzügiger Weise finanziell gefördert hat. Außerdem danken wir Dr. Thomas Ernst (Amsterdam), Dr. Stefan Hermes (Duisburg-Essen), Prof. Dr. Henriette Herwig (Düsseldorf), Prof. Dr. Werner Jung (Duisburg-Essen), Dr. Christian Steltz (Regensburg) und Prof. Dr. Anne-Charlott Trepp (Kassel), die die Sektionen der Konferenz kommentiert und dabei wichtige Anregungen gegeben haben. Bei der Redaktion des Tagungsbandes waren Dr. Antonia Gießmann-Konrads und Dr. Darius Harwardt (beide Duisburg-Essen) eine große Hilfe; von Verlagsseite betreute ihn gewohnt kooperativ und umsichtig Jürgen Hotz. Essen, im Dezember 2018 Frank Becker und Elke Reinhardt-Becker Semantiken der Liebe zwischen Kontinuität und Wandel - eine Skizze Frank Becker und Elke Reinhardt-Becker Selbstverständlich kann ein Überblick über die Entwicklung von Liebessemantiken von der mittelalterlichen Minne bis zur Gegenwart nur den Charakter einer Skizze haben. Diese Skizze soll aber Leistungen erbringen, die für die Gesamtkonzeption des vorliegenden Bandes von Bedeutung sind. So wird sichtbar zu machen sein, dass ein Phänomen wie Liebe nur an der Schnittstelle von Literatur- bzw. Kulturgeschichte und allgemeiner Geschichte aufgesucht und erforscht werden kann. Kulturelle Erzeugnisse wie literarische Texte, seit dem letzten Jahrhundert auch Filme oder TV-Serien, geben die Modelle vor, an denen sich reales Handeln und Erleben orientieren - wie auch umgekehrt die Modelle auf realgeschichtliche Probleme reagieren und hierfür Lösungen anbieten. Die besondere Relevanz von Literatur und Kunst wird auch daraus ersichtlich, dass die maßgeblichen Leitsemantiken für die Zeit vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart im Kontext von literarisch-künstlerischen Strömungen entstanden sind: zum einen in der Romantik, zum anderen in der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre. Aufgrund ihrer Schlüsselrolle wird diesen beiden Konzepten in der nachfolgenden Skizze die größte Aufmerksamkeit gewidmet. In räumlicher Hinsicht wird ein Schwerpunkt bei Deutschland gesetzt, ohne die internationale Perspektive zu ignorieren. Liebessemantiken waren, am deutlichsten sichtbar bei Minne und Romantik, oftmals europäische Phänomene; durch die Expansion der europäischen Mächte wurden sie in andere Teile der Welt getragen. Im 20. Jahrhundert wirkte manches aus den USA auf Europa zurück, während die kommunistischen Staaten (vergeblich) versuchten, ihre Konzepte auf dem Weg einer Weltrevolution durchzusetzen. Ob es in der Gegenwart aufgrund der Wirkung von weltumspannend rezipierten Medien zu einer Globalisierung von Liebessemantiken kommt, ist eine offene Frage. Von der Minne zum Barock Die Vorstellungen von Liebe in der westlichen Welt sind, wie oben ausgeführt, maßgeblich durch literarische Ideen geprägt. Diese Ideen bestimmen, wie, warum und in wen wir uns verlieben; was wir von der Liebe erwarten, wie wir sie gestalten. Hierzu hat schon die mittelalterliche Minne beigetragen. Das wird evident, wenn die Anfangsphase der Liebe in den Blick gerät. Die meisten Liebesgeschichten funktionieren bis heute nach einem bestimmten Muster, gleichgültig ob sie fiktiv oder real sind. Bemerkenswerterweise durchschreiten die Liebespaare in der ersten Zeit ihrer Liebe den gesamten historischen Ausdifferenzierungsprozess der europäischen Liebessemantik in fünf Konstituierungsphasen. In diesen Phasen werden Semantiken aktiviert, die für die stabile Paarbildung unverzichtbar sind. Wir lernen zufällig (1) einen Menschen mit - für uns persönlich - idealen Eigenschaften (2) kennen. Diese Eigenschaften des Gegenübers werden als so ungewöhnlich erlebt, dass sie zu einer Passion führen, derer sich die Beteiligten nicht erwehren können: Sie entwickeln leidenschaftliche Gefühle. Die Minne ist hierfür die Quellsemantik. Sie war ein erster Schritt, der die Liebe vom rein sinnlichen Verlangen, vom Nützlichkeitspostulat und von der Nächstenliebe ablöste. So geht es in der sogenannten hohen Minne um die Liebe zu einer unerreichbaren adligen Dame. Ein Sprecher-Ich idealisiert die frouwe, preist ihre Schönheit und edle Gesinnung, formuliert (unerfüllbare) erotische Wünsche und wertet sich auf, indem er sich dem Minnedienst an ihr verschreibt. Neu ist, dass der seelische Anteil dieser Liebe betont wird. Die Frau ist nicht mehr nur ein Körper, den man besitzt, der Geld, Macht, Verbindungen und Nachkommen einbringt; sie hat ein inneres Wesen, und es gilt, ihr Herz zu erobern. Auslöser dieser Ritterliebe ist das Prinzip der Idealisierung: Der geliebte Gegenstand hat ideale Eigenschaften - nicht zuletzt aufgrund seiner hohen gesellschaftlichen Stellung - und erzwingt die Liebe dadurch geradezu. Der Ritter erleidet die Liebe, er kann sich ihrer nicht erwehren, er verliert die Kontrolle über seine Sinne und wird liebeskrank. Er verfällt einer Passion (3). Im Barock verschieben sich die Akzente: Es sei die objektivierbare Schönheit der (oft noch adligen) Frau, aus der die innere Güte hervorgehe, welche die passionierte Liebe auslöse. D...