Beschreibung
Normannen sind keine Wikinger, obwohl sie von diesen abstammten. In einer furiosen Entwicklung bauten sie innerhalb eines Jahrhunderts einen mittelalterlichen Musterstaat auf: christlich, ritterlich, zentral und effizient verwaltet, die aktuelle Gelehrsamkeit ihrer Zeit fördernd. Die größte Berühmtheit erlangten sie durch ihre militärischen Erfolge, mit denen sie sich im 11. und 12. Jahrhundert von der Normandie aus die Herrschaft über England, Süditalien und ein Gebiet im Nahen Osten verschafften. Trotz ihrer Siege integrierten und assimilierten sie sich so gründlich in den eroberten Ländern, dass nur noch die ruhmvolle Herkunft aus Skandinavien ihre Identität ausmachte - die in der Normandie noch heute gepflegt wird. Was blieb, ist ihr Mythos - der Mythos der erfolgreichsten Eroberer des Mittelalters, deren Spuren und Auswirkungen bis heute präsent sind.
Autorenportrait
Arnulf Krause promovierte 1989 in Germanistik und Skandinavistik. Er ist Honorarprofessor für Ältere Germanistik und Skandinavische Sprache und Literatur an der Universität Bonn sowie Lehrbeauftragter an der Universität Köln. Als Übersetzer der Edda und Autor zahlreicher Sachbücher ist er Experte für die Geschichte und Kultur der Germanen, Wikinger und Kelten sowie der Mythologie und Heldensage
Leseprobe
Soviel vorerst zur Vorgeschichte der Normannen, die eng mit der Wikingerzeit verbunden ist und in ihr ihren Ausgang nahm. Im Unterschied zu den Wikingern lässt sich für die nordfranzösischen Normannen und ihre mittelalterlichen Nachfahren kein klares Profil gewinnen. Denn während die Ersteren im Großen und Ganzen Skandinavien verbunden blieben, nahmen die Normannen - ganz ähnlich wie die Rus - bereits im Laufe von Jahrzehnten eine andere Identität an. Das lag an einer rasanten Romanisierung, der zufolge immer mehr Normannen die altfranzösische Sprache benutzten und die familiären wie kulturellen Verbindungen zu den Heimatländern schwächer wurden. Dazu trug die rasche Annahme des Christentums ebenso bei wie die Integration und Assimilierung in der alteingesessenen Bevölkerungsmehrheit - wozu nicht zuletzt zahlreiche Mischehen beitrugen. Für das 11. Jahrhundert muss man sich bereits fragen, was von einem wikingischen Erbe erhalten geblieben ist (vgl. Kap. 3). Mit ethnischer Fixierung ist es jedenfalls gerade im normannischen Adel nicht weit her; denn dieser bevorzugte familiäre Verbindungen zum alten Frankenadel, wovon man sich mehr Macht und Einfluss versprach. In den Eroberungen der Normannen sah es nicht viel anders aus: Selbst in England und in Süditalien sowieso erfolgte eine schnelle Integration. Was blieb dann aber noch von einer normannischen Identität? Interessanterweise das eigene Bewusstsein, von Skandinaviern abzustammen, das lange gepflegt wurde (und bis heute in der Normandie präsent ist). Die nichtnormannischen Historiographen überlieferten dieses Bewusstsein übrigens auch, allerdings mit negativer Konnotation. Ihnen zufolge stammten die Herzöge schlichtweg von Piraten ab. Gern verwenden mittelalterliche Zeugnisse wie moderne Historiker*innen ein Bündel an charakteristischen Eigenschaften wie Kriegserfahrung, Ehrgeiz, Listigkeit. Ob sich derlei Attribute ausschließlich auf eine Gruppe beziehen lassen, sei dahingestellt.Klarere Konturen gewinnt man, wenn man die Normannen weniger von ihrer Herkunft als von ihrer Entwicklung versteht. Dabei stößt man auf Phänomene wie das eines Musterstaates mit effizienter Verwaltung und einer engen Beziehung zwischen den Herzögen und der Kirche. Dazu zählt ebenso die Entwicklung des Rittertums, der Burgenbau und die Gelehrsamkeit der Klosterschulen.